Das alte Tagebuch

Autor: Geisterchronist | Datum: 19. Dezember 2024 | Lesezeit: 7 Minuten

Es war eine staubige Kiste auf dem Dachboden, unscheinbar zwischen altem Gerümpel und zerbrochenen Spielsachen, die Marie entdeckte, als sie das alte Haus ihrer verstorbenen Großmutter ausräumte. Das Tagebuch darin war alt, das Leder brüchig, und die Seiten vergilbt. Der Einband trug keine Schrift, doch die lockere Schnur, die es zusammenhielt, schien förmlich darauf zu warten, geöffnet zu werden.

Marie hatte ein Faible für alte Dinge. Die Idee, einen Einblick in das Leben ihrer Großmutter oder sogar eines anderen längst verstorbenen Familienmitglieds zu bekommen, reizte sie. Also nahm sie das Tagebuch mit in ihr Zimmer, schloss die Dachbodentür und begann, es zu lesen.

Die ersten Seiten waren unspektakulär, eine detaillierte Aufzeichnung von Alltag und Gedanken. Doch je weiter sie las, desto mehr schlich sich ein seltsames Gefühl ein. Die Schrift, anfangs ordentlich und klar, wurde unruhiger, die Buchstaben schrumpften und verzerrten sich, als ob der Schreiber zunehmend unter Stress oder Angst gestanden hätte.

Eines der Einträge stach besonders hervor:

„Ich habe es heute wieder gehört. Dieses Kratzen in den Wänden. Zuerst dachte ich, es seien Mäuse, aber es klingt… tiefer. Als ob etwas mit Krallen unter den Dielen schabt."

Marie runzelte die Stirn. Der Gedanke war unangenehm, aber es war ein altes Haus – vielleicht war es wirklich nur ein Problem mit Nagetieren gewesen.

Doch die Einträge wurden düsterer:

„Ich sehe es jetzt. In den Ecken, wenn die Nacht hereinbricht. Es ist keine Maus. Es hat Augen. Schwarze, leere Augen, die mich anstarren. Und sein Lächeln... Oh Gott, das Lächeln…"

Marie schluckte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch sie konnte das Tagebuch nicht aus der Hand legen. Die Worte zogen sie in eine seltsame, klaustrophobische Welt.

„Heute hat es gesprochen. Nicht laut, sondern in meinem Kopf. Es sagte, ich gehöre ihm. Dass es mich holen wird, wenn ich die letzte Seite des Buches schreibe. Ich kann nicht aufhören zu schreiben. Es zwingt mich."
Marie legte das Tagebuch beiseite, ihr Atem stockend. Es fühlte sich plötzlich schwer in ihren Händen an, fast, als hätte es eine eigene Präsenz. Ein leises Geräusch ließ sie zusammenzucken – ein Kratzen. Sie drehte sich um, aber das Zimmer war leer.

[Geschichte fortsetzt...]

„Es ist hinter mir. Es lächelt immer noch. Warum lächelt es? Ich habe keine Tinte mehr, aber ich muss schreiben, sonst wird es mich holen…"
Am nächsten Morgen fand man Maries Zimmer leer vor. Das Tagebuch lag auf ihrem Bett, die Seiten waren wieder leer, abgesehen von einem neuen Eintrag auf der ersten Seite:
„Es lächelt immer noch."

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Kommentare:

GruselFan23: Diese Geschichte hat mir eine schlaflose Nacht beschert. Das Ende ist wirklich gruselig!

NachtLeser: Sehr atmosphärisch geschrieben. Die Tagebucheinträge sind besonders gut gelungen.

SchattenSucher: Ich werde nie wieder alte Tagebücher lesen...